Dieser Artikel versucht aus psychologischer Sichtweise, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum sich in Europa seit Beginn der Covid-19-Krise die immer gleichen Fehler aus verspäteten und zu schwachen Maßnahmen sowie vorzeitigen Lockerungen wiederholen.
Europäische Ausgangslage
Erste Lockerungen und sich überbietende Forderungen nach deren weiterer Beschleunigung – Schulen, Friseure, Zoos – die Liste ließe sich fortsetzen.Gleichzeitig explodieren die Fallzahlen und Todeszahlen im Nachbarland Tschechien. Langsam versteht man zwar, dass es nicht so günstig ist, hier einen unkontrollierten Import zuzulassen, leider dürfte es aber schon zu spät sein. Denn in Tschechien wütet die britische Mutation und zwar womöglich bereits in weiter mutierter Version. Tschechien selbst ist derweil ein tragisches Vorbild und tragisches Warnbeispiels zugleich:
- sehr viel früher als andere in Europa hatte Tschechien begonnen, seine Bevölkerung vor der Ausbreitung der Infektion effektiv zu schützen. Dort trugen bereits alle Masken zu einer Zeit als in Deutschland und vielen anderen Teilen Europas dies noch als eine merkwürdige asiatische Marotte missverstanden wurde und zahlreiche Medien beim Thema Masken (nur scheinbar tiefsinnige) Analysen über den asiatischen Charakter lieferten. Dann aber wurde alles ganz rasch gelockert und der Wahnsinn nahm seinen Lauf. Vorzeitige Lockerungen und wie schädlich sie sind – ein Blick nach Tschechien gibt uns eine aussagekräftige Antwort.
Auf den Lockerungsdiskurs in Deutschland scheint dies jedoch wenig Einfluss zu haben.
Dabei hatten gerade erst auch in den europäischen Ländern erstmals Stimmen an Gewicht gewonnen, die eine Zero-Covid-Strategie fordern – eine Strategie, die bereits in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen politischen Systemen, unterschiedlichen Bevölkerungs-Anzahlungen und unterschiedlichen geografischen Bedingungen erfolgreich erprobt wurde:
- genannt seien die Inselstaaten Australien und Neuseeland, die Festlandstaaten Kambodscha, Vietnam und Thailand, die Insel Taiwan oder das große Festlandchina.
Vietnam hat so bereits mindestens viermal einen Ausbruch zu Ende bringen können, zuletzt auch einen Ausbruch der britischen Mutation.
Thailand scheint ebenfalls gerade dabei zu sein, einen neuerlichen Massenausbruch mit Übergriff auf über 60 Provinzen zum Erliegen zu bringen.
Kambodscha hat nie einen größeren Ausbruch zugelassen.
Dieser Tage wird hier in Kambodscha, wo ich seit 2015 lebe, das chinesische neue Jahr gefeiert. Es gibt keinerlei Beschränkungen innerhalb des Landes. Das Leben ist normal, nur Masken werden mehr getragen als üblich.
Nachdem die Infektionen im Land durch eine Null-Covid-Strategie auf Null gebracht wurden, konnte dieser Fortschritt bisher aufrechterhalten werden.
Motor der Aufrechterhaltung dieses Erfolges ist die Quarantäne:
- bei offenen Grenzen muss jeder Einreisende mit negativem Testergebnis anreisen, wird am Flughafen erneut getestet, wartet auf das Ergebnis in einer Quarantäneeinrichtung, wo er bei negativem Befund 14 Tage verbleibt und zum Abschluss der Quarantäne erneut getestet wird, oder bei positivem Befund in ein Krankenhaus eingewiesen wird, aus dem die Entlassung nach zweifachem negativem Testergebnis erfolgt.
Die Zahlen an den Grenzen machen eindrucksvoll deutlich, dass Kambodscha ohne diese obligatorische mehrfache Testung und Quarantäne aller Einreisenden längst von der Infektion überflutet worden wäre – genau wie Europa.
Wieso handelt Europa anders?
In diesem Artikel widme ich mich vorwiegend der Frage nach dem psychologischen “Warum?”.
- wieso ist in Europa (und den USA) eine Null-Covid-Strategie nicht gelungen, ja war sogar bis vor Kurzem nicht diskussionsfähig?
- weshalb wiederholen sich hier stattdessen immer wieder Muster aus zu späten Maßnahmen, zunehmenden Fällen, verfrühten Lockerungen und erneut steigenden Fallanzahlen?
- wie ist die enorme Totenanzahl vereinbar mit dem Selbstbild, ein überlegenes politisches System zu praktizieren?
- wo bleibt der Lernprozess, der Misserfolge korrigieren und Erfolge optimieren kann?
Schließlich:
- welche psychologischen Mechanismen liegen all dem zugrunde?
Hinterher ist man immer schlauer?
Diesen Schuh braucht sich mein Blog nicht anzuziehen:
- in meinem Artikel von 19. März 2020 plädierte ich für die Annahme der asiatischen Perspektive auf Gesichtsmasken zu einer Zeit als Gesichtsmasken in Europa noch weiträumig abgelehnt wurden. Am 20. März 2020 lautete der Titel meines Artikels “Ausgangssperre jetzt”. Am 19. April 2020 setzte ich mich in dem Artikel “Wenn Virologen fehlgehen” mit nach meiner Einschätzung gefährlichen, nationalistischen Strategien der kontrollierten Zulassung der Ausbreitung der Infektion in Abhängigkeit vom eigenen Gesundheitssystem auseinander. Solche Strategien ordnete ich in einem weiteren Artikel von 24.04.2002 als Ausdruck mangelnder internationaler Solidarität ein. Die Politik der Lockerungen nach dem ersten Shutdown kommentierte ich in meinem Artikel vom 18 Juli 2020 unter dem Titel “Wie Kurzzeitdenken zum globalen Versagen führt”. Am 13. September 2020 plädierte ich mit dem Artikel “Covid-19: Was Europa von Kambodscha lernen kann” dafür, dass Europa den Blick von sich selbst auf andere wendet und sich an erfolgreicheren Strategien anderer Staaten orientiert. Am 24. Oktober lautete der Artikel “Durch Wegschauen zum Shutdown”. Der Artikel vom 08. November 2020 lautete “Lockdown: zu spät und zu wenig” – der Untertitel: “Schließt die Schulen und die Gotteshäuser!“
Umriss des europäischen Versagens
Vor der Ursachenanalyse möchte ich noch einmal als Ausgangspunkt in aller Kürze in wenigen Punkten das Versagen der europäischen Länder bei der Covid-Bekämpfung umreißen:
- die Regierungen in Europa trafen schnell die Entscheidung, gar nicht erst den Versuch zu unternehmen, die Ausbreitung des Virus komplett zu unterbinden. Das Motto “mit dem Virus leben lernen” kam einer verfrühten Kapitulation gleich. Während die WHO verkündete, es sei zum ersten Mal in China bewiesen worden, dass sich eine hochansteckende Infektionserkrankung, die bereits zu Massenansteckungen führte, durch Maßnahmen des Infektionsschutzes nahezu komplett unterdrücken lasse, stellte sich Europa ohne Belege auf einen anderen Standpunkt. Wer bereits überzeugt ist, mit einem Übel leben zu müssen, handelt nicht mehr entschlossen, das Übel abzuwenden. Die Ausbreitung eines Übels wurde so in Europa zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung.
- die Entscheidung, die Ausbreitung nicht auf den eigenen Staatsgebieten zu unterbinden, förderte die weltweite Ausbreitung und die zunehmende Eskalation des Pandemie-Charakters. Die Ausrichtung, die Verlangsamung der Ausbreitung an den eigenen Gesundheitssystemen zu orientieren, berücksichtigte die Gesundheitssysteme anderer Länder nicht, war und ist damit Ausdruck einer unsolidarischen Politik und führte gleichzeitig in den eigenen Staatsgebieten zur schrittweise wachsenden Akzeptanz für immer mehr Tote und Schwerkranke, wobei ebenfalls mögliche Langzeitfolgen für eine unbekannte Anzahl an “Genesenen” in Kauf genommen wurden (körperliche Dauerschäden, Traumatisierungen und psychische Langzeitschäden, Auswirkungen auf Angehörige von Verstorbenen oder Schwererkrankten etc.)
- gleich zu Beginn war in China sichtbar, wie enorm schnell sich dieser Virus ausbreiten kann und zu welchen Verheerungen der Virus selbst in einem modernen Gesundheitssystem, wie in Wuhan, führen konnte. Nachfolgend zeigten in Europa die Beispiele Italiens, Belgiens, Frankreichs und Großbritanniens, dass dies nicht chinaspezifisch war. Die vorschnelle Beendigung des ersten und durchaus zunächst erfolgreichen Lockdowns und die nachfolgende quasi sofortige Grenzöffnung ohne Tests und kontrollierte Quarantäne aller Einreisenden kam einer Freigabe der weiteren innereuropäischen und weltweiten Ausbreitung gleich. An dieser Strategie wurde festgehalten, selbst als in anderen Ländern bereits zweite und dritte Wellen rollten (z.B. Israel, Singapur).
- je mehr sich ein Virus ausbreitet, desto stärker steigt die Wahrscheinlichkeit von Mutanten und damit auch die Wahrscheinlichkeit gefährlicher Mutanten. Dies ist eine unstrittige Sachlage. Sich zu einem Zeitpunkt gegen die konsequente Eindämmung zu entscheiden, in der noch keine wirksamen Medikamente und keine allgemein verfügbaren Massen-Impfungen zur Verfügung stehen, ist ein Spiel mit dem Feuer, welches Europa leider betrieb und so die gesamte Welt weiter gefährdete.
Wieso ist es so gekommen und warum geht es so weiter?
Die Kurzzeit-Falle
Ein Teil der Erklärung für das Versagen Europas liegt nach meiner Einschätzung in unserer hochgradigen Sensitivität gegenüber Kurzzeitkonsequenzen und unserer umgekehrt wesentlich geringeren Sensitivität gegenüber Langzeitkonsequenzen.
Wir neigen dazu, so zu handeln, dass Ergebnisse schnell erzielt werden.
Unproblematisch ist Kurzzeitdenken solange, wie Kurzzeit- und Langzeitergebnisse zu den gleichen Folgen oder wenigstens nicht zu konträren Folgen führen.
Problematisch wird es aber ab dem Moment, wo gegenteilige Kurzzeit- und Langzeitfolgen resultieren:
- sind die Kurzzeitfolgen positiv und die Langzeitfolgen negativ oder umgekehrt sind die Kurzzeitfolgen negativ, aber die Langzeitfolgen positiv, gerät ein an Kurzzeiteffekten orientiertes individuelles und gesellschaftliches Handeln rasch in die Gefahr, negative Langzeitfolgen zu verursachen und mögliche positive Langzeitfolgen nicht auszuschöpfen oder sogar gänzlich zu verspielen.
Die seit Jahrzehnten weiter eskalierende systematische Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen unseres Planeten ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Orientierung an Kurzzeitkonsequenzen (wirtschaftlicher Gewinn, Steigerung des materiellen Lebensstandards) zu langfristig fatalen Folgen führen kann.
Unser Fleischkonsum und das ganze System der Nutztierhaltung stellen ein weiteres, hiermit verwandtes Beispiel dar:
- der sofortige geschmackliche Verstärker überragt in der Verhaltenswirksamkeit bei weitem die späteren Folgen für Gesundheit und unser Ökosystem. Dabei ist selbst diese aktuelle Pandemie die Folge eines auf Nutztierhaltung und brutale Tierausbeutung ausgelegten weltweiten Systems, welches Lebensräume und Biodiversität zerstört und immer mehr Wildtiere und Nutztiere in direkte Nähe des Menschen bringt. So steigen die Gefahr von Zoonosen und pandemischen Entwicklungen.
Bei der Bewältigung der Covid-19 Krise in Europa (und den USA) lässt sich von Beginn an bis jetzt eine enge Orientierung an kurzfristigen Konsequenzen erkennen:
- trotz des erschreckenden Beispiels der Ereignisse in China vor Augen und der Sachlage der bereits beginnenden weltweiten Ausbreitung führten die ersten Fälle in Deutschland zu keiner konsequenten Eindämmung, sondern es wurde Fasching gefeiert.
- der kurzfristige Spaß am Feiern und die kurzfristige Angst der Entscheidungsträger, diesem Spaß nicht nachzugeben, wurden begründeter Vorsicht und wirksamen Maßnahmen zur Verhinderung einer möglichen Ausbreitung der Infektion untergeordnet.
- erst als in Italien die Zahlen explodierten und das Sterben dort begann, wurde ein erster Lockdown möglich. Zwar war dieser zunächst erfolgreich, aber Lockerungsdiskussionen begannen quasi mit dem ersten Tag und erreichten rasch eine Dynamik, die dazu führte, dass Lockerungen für wichtiger befunden wurden als die konsequente Reduktion der Fallzahlen auf Null oder quasi Null.
Bei noch mehr als 1000 Fällen täglich traten Lockerungen in Kraft und es wurden ohne Testungen und Quarantänemaßnahmen die Grenzkontrollen an den innereuropäischen Grenzen eingestellt. - über den Sommer und Herbst wurde mit weitreichenden Lockerungen, einschließlich Reisemöglichkeiten und geöffneten Schulen, ein Infektionsreservoir geschaffen, welches nachfolgend – wenig überraschend – erneut explodierte.
- aber selbst als die Zahlen höher als jemals zuvor waren und eine massive Zunahme des Todeszahlen auch in Deutschland vorhersehbar wurde, gab es zunächst einen Lockdown Light, der unter anderem an der Ideologie orientiert war, dass eine Öffnung von Kindergärten und Schulen unbedingt zu gewährleisten sei.
- diese Ideologie der Vermeidung von Einschränkungen und der kurzfristigen Entlastung wurde langfristig mit einer Fortdauer der Ausbreitung der Infektion, zehntausenden Toten, einem mehrfachen an Schwerkranken, einer unbekannten Anzahl an Dauergeschädigten, sowie hunderttausenden Kindern in Quarantäne erkauft.
- mittlerweile haben Studien übrigens gezeigt, dass die weltweit wirksamste Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie überhaupt die Schließung von Schulen und Bildungseinrichtungen ist. Ausgerechnet die wirksamste Maßnahme wollte man aber um jeden Preis verhindern.
- schließlich führte das katastrophale Scheitern der kurzsichtigen Entlastungs- und Bagatellisierungspolitik zu einem derzeit noch fortbestehenden etwas echteren Lockdown, der es allerdings unter anderem verpasste, Reisemöglichkeiten in die Nachbarländer auf Notfälle und humanitäre Fälle zu beschränken, wodurch mittlerweile Mutanten eingeschleppt wurden, deren explosionsartige Ausbreitung in der Zukunft keineswegs ausgeschlossen oder sogar wahrscheinlich ist. Beschränkungen der Reisen werden erst jetzt – also viel zu spät und viel zu zaghaft durchgeführt.
- trotz der enormen Bedrohungen durch die Mutanten, von denen sich mindestens die aus Südafrika negativ auf die Impfeffektivität auswirkt, hat man wenig gelernt: schon wieder werden Schulen geöffnet und nach der ersten Märzwoche sind gegeben falls weitere Lockerungseskalationen zu erwarten, die der Ausbreitung der Infektion womöglich Tür und Tor öffnen könnten.
- der festgelegte Inzidenzwert von 35, ab dem weitreichende Lockerungen erfolgen können sollen, ist willkürlich und viel zu hoch, er ist meilenweit von dem Ziel von Null Infektionen entfernt und kommt keiner echten Kontrolle der Infektionsausbreitung nahe.
- fraglos ist die weitere Entwicklung nicht sicher vorhersehbar, das Risiko, dass sich durch jede Form von Lockerungen eine beschleunigte Ausbreitung der Mutanten ergibt, ist jedoch ersichtlich. Sollte dieser Fall eintreten, kann niemand sagen, es wäre nicht als wahrscheinliche Möglichkeit vorhersehbar gewesen.
Lockerungen entlasten sofort …
Positive Auswirkungen von Lockerungen sind sofort spürbar – mehr Spaß, weniger Einschränkungen, weniger Proteste, Erleichterungen auf allen Ebenen, ob für Eltern und Kinder oder für Politiker.
negative Auswirkungen kommen später …
Sie zeigen sich aktuell in Deutschland in mehr als 64000 Toten, ungefähr das dreifache der schlimmsten Grippewelle der letzten Jahrzehnte und Welten entfernt von den viel niedrigeren Todeszahlen in asiatischen und anderen Ländern, die auf die konsequente und maximale Reduktion der Fallzahlen setzten.
Schutzmaßnahmen werden langfristig belohnt
In Kambodscha gibt es aktuell beispielsweise weiterhin null Tote – niemand musste den Verlust eines Angehörigen wegen Covid-19 betrauern. Sicherlich waren hierfür Verzichte und Einschnitte notwendig, aber die Ergebnisse wirken sich positiv auf das Lebensgefühl im ganzen Land aus.
In Kambodscha wurden allerdings auch bei damals nur drei Infektionen innerhalb des Landes (Community-Spread) alle Schulen und Bildungseinrichtungen monatelang geschlossen – und nach ihrer Wiedereröffnung erneut wochenlang geschlossen, als eine kleine Infektionswelle mit ca. 40 Fällen auftrat.
Im Gegenzug ist nun im Land seit Anfang Januar wieder alles komplett geöffnet, es gibt keine Einschränkungen und bisher ausschließlich Fälle an den Grenzen, wo obligatorische wiederholte Testung und Unterbringung in staatlichen Quarantäneeinrichtungen umgesetzt wird.
Europas Impulsivität
Lockerungen in der jetzigen Infektionslage in Europa sind demgegenüber psychologisch Ausdruck eines impulsiven Handelns und der Unfähigkeit, Anstrengung und Entbehrung zur Vermeidung eines größeren Übels zu ertragen.
Europa wird dominiert durch den Wunsch nach sofortiger Belohnung, anstatt sofortige Belohnungen für ein größeres Gut zunächst einmal aufzuschieben.
- wieso aber fallen Deutschland, Europa und die USA der Orientierung an Kurzzeitkonsequenzen zum Opfer, während andere Länder – wie Vietnam, Kambodscha, Thailand, China, Laos, Taiwan, aber auch mit Einschränkungen Südkorea – sich für eine nachhaltige, langfristig wirksame und die Ausbreitung massiv begrenzende oder sogar komplett blockierende Politik entschieden haben und diese Politik bisher auch durchziehen?
- wieso schließen in Kambodscha nach drei Infektionen im Land alle Schulen, während in Deutschland bei 10000 Infektionen pro Tag die Wiederöffnung vorangetrieben wird?
- wieso wirken die zehntausenden Toten nicht als Warnsignal, um die Wiederholung der alten Fehler zu vermeiden?
Nach meiner Ansicht zeigt sich hier eine durchaus tiefgreifende Deformation der westlichen Gesellschaften, die sich in Form von hoher Ansprüchlichkeit und damit zusammenhängend ausgeprägten Katastrophisierungstendenzen zeigt, wenn Ansprüche einmal zurückgestellt werden müssen.
Diese Ausrichtung der europäischen Gesellschaften macht es schwerer, kurzfristigen Verlockungen zu widerstehen und zu verzichten, wenn Verzicht notwendig ist:
- weil temporäre Reduktionen der Erfüllung von Ansprüchen zum Wohle aller als unzumutbar katastrophisiert werden, orientiert sich die Politik daran, Ansprüche weiterhin möglichst sofort zu erfüllen.
Das Verhalten in Europa erinnert an Durstige im Meer, die zum Meerwasser greifen und damit ihren Durst nur verstärken.
Antriebe zum impulsiven Handeln
Ansprüchlichkeit und Katastrophisierung fungieren in Europa nach meiner Ansicht als Antreiber zum impulsiven Handeln:
- betrachtet man das gesellschaftliche Leben in Europa entsteht der Eindruck, dass Konsummöglichkeiten und deren sofortige Erfüllbarkeit geradezu als ein Menschenrecht bewertet werden, jedenfalls für die eigenen Staatsgebiete.
- das gesellschaftliche Leben hat routiniert zu verlaufen, Krisen sind nicht vorgesehen, Einschränkungen werden als unzumutbar erlebt.
- Freiheit wird als Konsumrecht verstanden, Partys und Vergnügungsreisen scheinen für ein glückliches und intaktes Leben unverzichtbar.
- Eltern mit ihren vielen Doppelbelastungen die Betreuung ihrer Kinder zuzumuten, wenn Präsenz-Schule aufgrund einer gesellschaftlichen Krise zurücktreten muss, halten viele für unerträglich. Könnten Kinder ein halbes Jahr nicht zur Schule gehen, käme das in der Sichtweise vieler einer Katastrophe gleich. Die Wiederholung eines ganzen Schuljahres oder -halbjahres für alle, um der Ausbreitung einer neuartigen Pandemie entschieden Einhalt zu bieten? In Europa undenkbar!
Natürlich ist es grundsätzlich erfreulich, wenn eine Gesellschaft ihren Mitgliedern ein Maximum an positivem Erleben und ein Minimum an Leid und Einschränkungen ermöglichen möchte. Dies möchte ich in keiner Weise kritisieren.
Aber tatsächlich geht es um etwas anderes, es geht um die Frage, ob Ansprüche auch dann erfüllt werden müssen oder sollten, wenn schwerwiegendere Gründe dem entgegenstehen?
Es geht um die Frage, ob es tatsächlich eine Katastrophe ist, wenn eine Gesellschaft sich in einer Krisensituation zu nachhaltigen Einschränkungen entscheidet, bis die Krise gemeistert ist?
Es geht auch darum, ob Staaten Vorbilder sein können, die zu einem solchen Krisenmanagement nicht in der Lage sind?
Rationale Kosten-Nutzen-Analyse
Aus einer rein objektiven, an Lebensnotwendigkeiten und auch an psychischen Voraussetzungen orientierten Analyse liegen für mich folgende Bewertungen nahe:
- nichts von alledem, was es an Einschränkungen gab, gibt oder geben sollte, ist tatsächlich für eine Gesellschaft oder ihre individuellen Bürger eine Katastrophe – von der Schließung der Restaurants und Vergnügungsstätten, der Einschränkung von Reisen, der Quarantäne bis hin zu den Schulschließungen.
Die Katastrophe entsteht nicht durch die objektiven Beschränkungen, sondern durch die subjektive Katastrophenwahrnehmung. Zur Katastrophe werden solche Einschränkungen mit anderen Worten also erst, wenn sie katastrophisiert werden.
Aus dieser Katastrophisierung kann dann wiederum eine echte Katastrophe entstehen:
- eine Gesellschaft, die notwendige Einschränkungen katastrophisiert, beraubt sich ihrer Krisenfestigkeit und schneidet damit in Krisensituationen notwendigerweise schlechter ab als Gesellschaften, die bereit sind, für ein höheres Gut auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu verzichten, Erschwernisse und Belastungen temporär in Kauf zu nehmen, um langfristig zu der besten Lösung zu gelangen.
Die europäischen Gesellschaften orientieren sich bei der Covid-19 Bekämpfung deshalb an kurzsichtigem Handeln, weil sie alles, was zu langfristigem Erfolg führen könnte, so stark katastrophisieren, dass sie machbare und wirksame Handlungen als unmachbar bewerten und sich damit Handlungsmöglichkeiten nehmen.
Wenn wirksames Handeln durch Katastrophisierung seiner unmittelbaren Nebenfolgen blockiert wird, sind Gesellschaften in Anbetracht von Krisen hilflos. Hilflos sind sie nicht, weil sie nicht handeln könnten, sondern weil sie sich selbst mögliche Handlungen versperren.
Im Ergebnis wurde in Europa die massenhafte Ausbreitung der Pandemie möglich. Deshalb starben in Europa bereits mehr als 700000 Menschen. Deshalb droht die Ausbreitung der Mutanten.
Die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen:
- nichts davon wäre unvermeidbar gewesen.
Es macht keinen Sinn, diesen Sachverhalt auszublenden und sich stattdessen unberechtigt auf die Schulter zu klopfen.
Die Bereitschaft zu Anstrengung, Ausdauer, Verzicht und Belohnungsaufschub sind in unseren grenzenlosen Konsum- und Anspruchsgesellschaften offenbar bereits zu stark untergegangen.
Trotz hochentwickelter Technik und Wissenschaft hat sich Europa nicht ökonomisch oder technisch, sondern psychisch blockiert.
Die Ideologie der Schulöffnungen um jeden Preis ist dafür nur ein besonders prägnantes Beispiel unter vielen, die Eröffnung von Friseurläden macht deutlich, dass selbst oberflächlichste Motive handlungstragend werden können.
Herzlosigkeit?
Manche mögen mir Insensitivität oder gar Herzlosigkeit gegenüber Kindern und Eltern sowie anderen Betroffenen vorwerfen:
- Kinder könnten ohne Schule depressiv werden. Sie würden ihrer Lernmöglichkeiten beraubt. Sie brauchten den sozialen Umgang mit ihren Freunden. Womöglich könne das später nicht mehr kompensiert werden. Eltern könnten die Belastung nicht mehr tragen. Eine ganze Gesellschaft drohe zusammenzubrechen.
Mir sind all diese Argumente durchaus bekannt und mir ist bewusst, dass es tatsächlich eine Belastung ist.
Aber Viren sind für diese Argumente nicht empfänglich:
- Viren richten sich nicht nach unseren Wünschen, sondern ihren eigenen Gesetzlichkeiten. Der Tanz für den Regen schafft keinen Regen und die Aussage, die Pandemie ist zu Ende, stoppt die Virusausbreitung nicht. Die Meinung, die Schulen müssten geöffnet werden, tangiert die Sachlage nicht, dass in geöffneten Schulen Infektionen stattfinden und die Erhöhung der Gesamtmobilität, die mit Schulöffnungen verbunden ist, zu weiteren Infektionen führt.
Vor allem aber zweifle ich an, dass es eine geringere Belastung ist,
- wenn Millionen Menschen sich infizieren, zehntausende sterben, hunderttausende schwer erkranken, zahlreiche Kinder ihre Großeltern oder auch Eltern verlieren, eine noch unbekannte Anzahl an Menschen körperliche oder psychische Dauerschäden erleiden, die auch ihre Angehörigen mitbetreffen.
- oder wenn viele Menschen völlig berechtigt permanent an Infektionsangst leiden müssen, wenn wegen der Schulöffnungen durch die dann erforderliche massenweise Quarantäne von infizierten Kindern und deren Kontakten die Bildungsungerechtigkeit weiter zunimmt, wenn durch die Ausbreitung der Infektion nicht nur das eigene Land, sondern alle Länder gefährdet werden, und zwar besonders diejenigen Länder, deren Gesundheitssysteme weniger mithalten können.
- wenn nach ihrem Selbstverständnis demokratische Staaten sich anschicken, dass Vorurteil zu belegen, dass Demokratien in Krisen nicht handlungsfähig seien.
Bei allem Verständnis für die Belastungen, die natürlich soweit als möglich gemindert werden sollten, scheint es mir doch offensichtlich, dass die negativen Langzeitfolgen der Nicht-Eindämmung bei weitem schwerer wiegen als die sofortigen Belastungen, die durch Schutzmaßnahmen und konsequente Eindämmung entstehen.
Dass dies in Europa in beachtlichem Ausmaß anders gesehen wird, liegt an der erhöhten Ansprüchlichkeit einer auf sofortige Bedürfniserfüllung konditionierten Konsumgesellschaft, in deren Folge Schutzmaßnahmen katastrophisiert werden, anstatt es wertzuschätzen, dass eine Eindämmung der Pandemie möglich ist.
Katastrophisierung erzeugt Katastrophen
Negative Kurzzeitfolgen von Schutzmaßnahmen werden durch Katastrophisierung nicht nur übertrieben, sondern teilweise sogar erst erzeugt:
- denn psychische Belastungen entstehen keineswegs nur oder vorwiegend aus objektiven Situationen, sondern in Interaktion mit der kognitiven Bewertung.
- wenn krebskranke Kinder seit Jahrzehnten klaglos Gesichtsmasken tragen, dann können dies gesunde Kinder ebenfalls. Unter Atemnot und Angst leiden sie nur dann, wenn ihnen dies die Eltern einreden und dadurch eine dysfunktionale und krankmachende Bewertung erzeugen.
- geiches gilt für alle Schutzmaßnahmen, auch für Schulschließungen und Reisebeschränkungen.
Die Katastrophisierung der Schutzmaßnahmen erhöht den Bias des kurzsichtigen Denkens und Handelns und treibt die europäischen Gesellschaften damit zum impulsiven Handeln, welches für die effektive Eindämmung der Pandemie nicht geeignet ist.
Die permanente Beschäftigung mit den vermeintlich unerträglichen Folgewirkungen der Schutzmainahmen, sowie das andauernde Augenmerk auf ihre möglichst schnelle Aufhebung, lenkt die Aufmerksamkeit ab von den negativen Langzeitfolgewirkungen, die entstehen, wenn Schutzmainahmen zu spät oder nicht effektiv genug erfolgen oder zu früh gelockert werden:
- wer ständig darüber nachdenkt, wie schlimm es sei, dass Restaurants, Friseure oder Schulen geschlossen sind, der hat keine Zeit und auch keine Energie mehr, sich stattdessen damit zu beschäftigen, was getan werden kann, um eine Pandemie aufzuhalten, oder sich die positiven Langzeitfolgen von Schutzmaßnahmen bewusst zu machen und sich so an ihnen zu freuen, anstatt sich über sie zu ärgern.
Ich sehe in diesen ganzen Unerträglichkeits-Diskussionen noch einen weiteren psychologischen Faktor wirksam werden:
Mangel an Perspektivenübernahme und Empathie
Wenn ich diese Tage so lese, wie unzumutbar und unerträglich temporäre Schulschließungen für Eltern und Kinder seien und zu welchen unkorrigierbaren Schäden diese bei Kindern angeblich führen könnten, kann ich nicht anders, als mich an meine Reise in die Türkei vor einigen Jahren zu erinnern, über die ich damals in meinem nicht mehr weitergeführten Blog menschenrechte.eu einen Foto-Artikel schrieb:
- “Sie schlafen in den Parks von Istanbul. Sie verkaufen Wasser oder Taschentücher auf den Straßen. Sie sitzen in den U-Bahnstationen vor den Rolltreppen. Sie bitten um Geld vor den großen Hotels und in den Vergnügungsvierteln. Es gibt für sie weder Ärzte noch Medizin. Die Kinder unter ihnen gehen in keinen Kindergarten und keine Schule, die älteren machen weder eine Lehre noch gehen sie zur Universität. Sie leben ganz im Hier und Jetzt, sie haben keinen Plan und keine Zukunft. Man sieht sie, aber will sie nicht sehen. Sie werden geduldet, aber sind doch unerwünscht. Die Polizei vertreibt sie, aber sie kehren zurück. Sie geben nicht auf, haben aber selber alle Hoffnung verloren. Ihre Existenz ist wohlbekannt, aber sie scheinen keinen der politisch Verantwortlichen in der Türkei, keine Hilfsorganisation, keine Europäische Union, nicht einmal das UNHCR und keine Medien zu interessieren. … Die Syrer auf den Straßen Istanbuls sind Menschen unter Menschen ohne Menschenrechte. Sie werden geduldet unter der Maßgabe der unausgesprochenen Pflicht, nur so viel aufzufallen, wie es für ihr Überleben unabdingbar ist. Eine Generation syrischer Säuglinge, Kleinkinder, Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener wächst so auf den Straßen auf, ohne jeden Kontakt zu Bildung und medizinischer Versorgung auf. Ohne Plan, ohne Perspektive, ohne Hoffnung und ohne Zukunft.”
Wieso drängen sich mir in diesen Zeiten bei Lesen der europäischen Presse diese Erinnerungen auf?
Ich lese von Entsetzen, Leid, Belastung, fürchterlichen Schäden für deutsche Kinder. Ich denke an die syrischen Kinder auf den Straßen Istanbuls, für die die Schule nicht temporär, sondern dauerhaft ausfällt, und ich erinnere mich an den Mehrheitskonsens in den europäischen Gesellschaften, der dazu lautete und lautet:
- wer vor dem Krieg fliehe, sei in der Türkei sicher und brauche nicht in die EU zu kommen.
Ich denke dabei gleichzeitig an die Flüchtlinge, die wir derzeit aufs tödliche Meer zurücktreiben oder die wir der sogenannten libyschen Küstenwache übergeben, in Wirklichkeit ein Synonym für eine Miliz, die auch mit unseren Geldern Menschenhandel, Folter und Versklavung betreibt.
Ich denke an die Kinder in den fürchterlichen Lagern auf europäischem Boden, die nicht nur ohne Beschulung sind, sondern in bitterster Kälte, in Nässe und ohne ausreichende medizinische Versorgung leben müssen.
Ich möchte aus einem Interview mit der norwegischen Psychotherapeutin Katrin Glatz-Brubakk über die Zustände in Flüchtlingslagern in Griechenland zitieren:
- “200 Menschen teilen sich jeweils eine Chemietoilette, die deshalb oft schmutzig ist. Wenn die Toilettenboxen im Wind umkippen, sind sie total verdreckt. Kinder und Erwachsene sagen uns, dass sie so wenig wie möglich essen und trinken, damit sie diese ekligen Toiletten nicht benutzen müssen. Das ausgeteilte Essen ist aber ohnehin oft zu wenig oder vergammelt. … In den schlimmsten Fällen ziehen sich die Kinder ganz von der Welt zurück. Wir haben Patienten, die seit acht Monaten nicht mehr sprechen und das Zelt nicht verlassen. Manche Kinder sind so apathisch, dass sie gefüttert werden müssen; Achtjährige, die wieder Windeln brauchen. Kinder sagen uns, dass sie nicht mehr leben wollen, weil sie keine Hoffnung haben. … Jüngere Kinder, die ihre Gefühle nicht ausdrücken können, neigen zur Selbstschädigung. Sie reißen sich die Haare aus, beißen sich selbst, bis sie bluten oder knallen den Kopf gegen Wand oder Boden, um diese Unruhe rauszukriegen.”
Diejenigen, die sich jetzt wegen temporärer Schulschließungen um kindliche Seelen sorgen, übertreiben die Not der “eigenen Kinder” maßlos, während gleichzeitig mitten in Europa andere Kinder in unerträglichen und traumatisierenden Zuständen leben, die anders als temporäre Schulschließungen zur Bekämpfung einer Pandemie tatsächlich zu dauerhaften Schäden führen können.
Hierzu passt, dass es Europa selbst in der Pandemie nicht unterlässt, seine Abschiebeflieger starten zu lassen. Soeben unternahm Deutschland einen weiteren Abschiebeflug nach Afghanistan , also in das nach wissenschaftlichen Auswertungen unsicherste Land der Welt, noch unsicherer als das direkt auf es folgende Syrien, und zusätzlich in ein Land, welches während dieser Pandemie (und auch erst seit Kurzem) über lediglich 300 Ventilatoren verfügt.
Über jedes eigene Fitzelein schreien, aber anderen größtes Leid und größten Verzicht zumuten, dies scheint mir eine faire Beschreibung des europäischen Handelns in der Covid-19-Krise zu sein.
Die Katastrophisierung von aus globaler Sicht minimalen Einschränkungen folgt psychologisch aus der Ansprüchlichkeit und dem Egozentrismus einer wohlhabenden Staatengemeinschaft, die für sich das Recht auf sofortige Bedürfnisbefriedigung quasi als Naturrecht gepachtet zu haben scheint.
In einer Welt der Ungleichheit ist eine solche Ansprüchlichkeit nur möglich, wenn Mitgefühl und Empathie ausgeblendet werden:
- über das Leid deutscher Kinder wegen der temporären Schulschließungen beklagen sich gerade diejenigen, die das Leid der syrischen Kinder auf den Straßen Istanbuls oder der Kinder, die in europäischen Lagern klirrender Kälte ausgesetzt sind, nicht zur Kenntnis nehmen.
Ich sehe einen klaren Zusammenhang zwischen einem gesellschaftlichen Empathiemangel und dem europäischen Versagen bei der Covid-19-Bekämpfung:
- die Katastrophisierung notwendiger Schutzmaßnahmen als unzumutbar erfolgt vor dem Hintergrund eines bereits jahrzehntelang kultivierten europäisch-nationalen Egoismus, der sich dadurch kennzeichnet, dass maximale Ansprüche bezüglich der eigenen Befindlichkeit gestellt werden und gleichzeitig Prozesse des Mitgefühls und der Empathie für die Befindlichkeit anderer konsequent ausgeblendet werden.
Wir dürfen uns von Kinderaugen nicht erpressen lassen, ist es ein Zufall, dass diese Aussage von dem führenden Repräsentanten einer Partei stammt, die heute zu den lautesten Stimmen unter den Covid-Verharmlosern und Leugnern und gleichzeitig zu den lautesten Stimmen unter den Katastrophisierern von Schutzmaßnahmen gehört?
Ich würde diese Frage verneinen. Es ist nämlich nach meiner Überzeugung genau dieser Mangel an Empathie, der die Katastrophisierung von Schutzmaßnahmen erst möglich macht.
Empathielosigkeit gefährdet jeden
Wir haben uns in Deutschland und Europa solange daran gewöhnt, dass immer nur die anderen leiden und haben uns über die Jahrzehnte derartig stark von diesem Leid abgeschottet, dass es uns nunmehr als unvorstellbar erscheint, dass kollektives Leid auch uns betreffen kann und dass wir diesem durch konsequente Einschränkung unserer eigenen Ansprüche begegnen sollen.
Die Katastrophisierung der notwendigen Schutzmaßnahmen und die Unfähigkeit, diese solange durchzuziehen bis die Pandemie unter Kontrolle ist, ist das Ergebnis einer gesellschaftlichen Maßlosigkeit, die kurzfristige Eigeninteressen über alles andere stellt.
Je weniger Mitgefühl und Solidarität bestehen, desto eher wird eine Gesellschaft zur Katastrophisierung notwendiger Belastungen neigen und desto schwerer wird es ihr fallen, eigene Bedürfnisse zunächst zurückzustellen und sich an langfristigen, anstatt an kurzfristigen Folgen zu orientieren. Erst in Krisen wird dies jedoch sichtbar.
Ein generalisierter Mangel an Mitgefühl zeigt sich ebenfalls bei der geradezu surrealen Diskussion über die Verfügbarkeit von Impfstoffen in Europa:
- die Sachlage, dass auf dem afrikanischen Kontinent erst ein paar Dutzend Impfungen verabreicht wurden, wird höchstens am Rande erwähnt. Europa schickt sich derweil an, den Export von Impfstoffen in Länder der dritten Welt zu blockieren. Europa, die USA und Deutschland verweigern sogar die Aufhebung des Patentschutzes für die Produktion der Impfungen während der Zeit der Pandemie und stellen sich den entsprechenden Anträgen Indiens entgegen.
Eine Aufhebung des Patentschutzes würde Verfahren massiv abkürzen und es anderen Ländern sofort erlauben, alle Covid-Impfstoffe nicht nur zu produzieren, sondern auch in andere Staaten problemlos zu exportieren, die die Impfstoffe selbst nicht produzieren können.
Es macht Sinn, dass Indien als weltweit mit führendes Arzneimittel herstellendes Land diesen Antrag stellt. Indien könnte so in kurzer Zeit wesentlich mehr Impfstoff produzieren und exportieren als dies derzeit möglich ist.
Es besteht ein weltweiter Mangel an Impfstoffen. Derweil machen es erste wissenschaftliche Befunde immer wahrscheinlich, dass Impfstoffe nicht nur die Erkrankung im Einzelfall verhindern oder abschwächen, sondern auch die Ausbreitung der Infektion verlangsamen können.
Je schneller dies gelingen würde, umso besser wären die Aussichten, gegenwärtige und künftige Mutanten in den Griff zu bekommen.
Die Langzeitinteressen aller Völker der Welt – auch des wohlhabenden Europas – schreien geradezu nach einer schnellen weltweiten Verfügbarkeit der Impfstoffe.
Aber die wirtschaftlichen Kurzzeitinteressen einiger wohlhabender Staaten – einschließlich Deutschlands – stellen sich diesem Langzeit-Interesse aller entgegen.
Hier sehen wir wieder die bedenkliche Mischung:
- Ansprüche zur sofortigen Erfüllung der eigenen Ansprüche (z.B. Gewinne für Unternehmen), Empathiemangel bezüglich der Situation anderer (es wird bereits diskutiert, ob eine flächendeckende Impfung in Afrika erst bis 2024 erreichbar sein möge!), Orientierung an kurzfristigen egoistischen Gewinninteressen bei Katastrophisierung jeden möglichen Verzichts führen dazu, dass nicht nur die Interessen anderer Regionen und Staaten mit Füßen getreten werden, sondern ebenfalls die eigenen Langzeitinteressen beschädigt werden.
Je langsamer es gelingt, die Pandemie international aufzuhalten, desto größer die Gefährdung aller.
Der Empathiemangel Europas wird nicht erst beim Thema Impfungen sichtbar, sondern zeigt sich ebenso im Mantra der Verlangsamung der Ausbreitung in Abhängigkeit von den Möglichkeiten der eigenen nationalen Gesundheitssysteme:
- jeder weiß, dass eine Pandemie nicht allein nationalstaatlich lösbar ist. Die Ausbreitung in einem Land gefährdet jedes Land.
die Entscheidung, die Ausbreitung nicht maximal einzudämmen bis wirksame Behandlungen und Impfstoffe weltweit verfügbar sind, sondern sich an dem eigenen Gesundheitssystem zu orientieren, ist Ausdruck von mangelnder Perspektivenübernahme, mangelnder Berücksichtigung der Interessen anderer und gleichzeitig durch den ungeeigneten Kurzzeitfokus ein Verstoß gegen die eigenen Langzeitinteressen.
Ein Defizit an Empathie gegenüber anderen, die nicht als zugehörig erlebt werden, kann sich im Übrigen schnell auf Mitglieder der eigenen Gesellschaft übertragen, die jedenfalls vorher noch als zugehörig erlebt wurden.
Dies lässt sich während der anhaltenden Pandemie gut beobachten:
- der Verweis darauf, dass die meisten schweren Verläufe und Todesfälle an Covid-10 bei alten oder vorerkrankten Menschen auftreten, wirkt auf viele beruhigend. Diese Sachlage wird gar als Argument gegen Schutzmaßnahmen ins Feld geführt.
Vergessen wird, dass wir alle alt werden, wenn wir nicht vorher sterben, und dass der Tod derjenigen, die an Covid-19 starben, nicht weniger tragisch dadurch wird, dass sie mehrheitlich bereits betagten oder hochbetagten Alters waren.
Noch hat diese Sichtweise keineswegs die gesamte Gesellschaft ergriffen, noch fokussieren sich Bemühungen auf den Schutz der Alten und Kranken, aber bereits jetzt ist erschreckend, wie viele Menschen das Alter der Betroffenen als Merkmal für eine scheinbare Harmlosigkeit der Erkrankung betrachten.
Am Ende hilft Empathiemangel niemanden, sondern schadet allen. Schauen wir zur Verdeutlichung auf die Nutztierhaltungsindustrie:
- mit unermesslichem Leid von mehr 70 Milliarden pro Jahr getöteter Landtiere und mehr als einer Billionen getöteter Wassertiere pro Jahr werden Milliardengewinne erzeugt.
- Milliarden Konsumenten beteiligen sich mit der Ernährung an dieser Praxis. Pro Kopf betrachtet werden dabei in Europa, den USA und einigen Ländern Südamerikas weitaus mehr Tierprodukte verzehrt als in den meisten anderen Regionen der Welt.
Dass uns der Biss nicht im Halse stecken bleibt, erklärt sich mit der systematischen Herabregulation und Ausblendung unserer Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl, die durchaus dazu angelegt sind, die Artgrenzen zu überschreiten – wie jeder Mensch mit Hund oder Katze bestätigen kann, wenn er mit einem leidenden Tier konfrontiert ist.
Wir stellen also unsere Geschmacksbedürfnisse über das Wohl und das Leben von Milliarden Tieren und tragen dadurch – wie soeben eine neue internationaler Wissenschaftsreport erneut herausgearbeitet hat – in geradezu unvorstellbarem Ausmaß zur Zerstörung der Biodiversität und der natürlichen Lebensgrundlagen unseres Planeten bei. Der Mangel an Empathie wird also letztlich zu unserem eigenen Schaden.
Gerade baden wir eine weitere Folge aus:
- Covid-19.
Wir könnten die Covid-19 Pandemie als eines der womöglich letzten Warnsignale sehen, dass wir unsere materiellen Ansprüchlichkeiten reduzieren und zu einer Empathie getragenen und solidarischen Lebensgestaltung finden sollten.
Wir könnten lernen, dass weniger mehr sein kann, dass wir vieles nicht brauchen, was wir irrtümlich als lebensnotwendig erleben, aber Empathie und Bescheidenheit tatsächlich lebensnotwendig sind und wir auf diese nicht verzichten können.
Bisher gibt es keinen Hinweis, dass diese Lektion gelernt wird und leider hat sich Europa mit an die Spitze derer gestellt, die die Augen vor dieser notwendigen Lektion verstellen und aus selbstsüchtigen und kurzfristigen Motiven heraus nicht einmal in der Lage sind, diese Pandemie entschlossen zu bekämpfen, geschweige denn für ein langfristiges nachhaltiges Morgen zu arbeiten.
Nach Covid-19 soll für diese derzeit machtpolitisch dominanten Kräfte vor allem vor Covid-19 sein, weiter so bis in den Klimakollaps.
Kurzzeitdenken, Ansprüchlichkeit, Katastrophisierung von Herausforderungen, Empathiemangel, noch etwas weiteres kommt nach meiner Einschätzung hinzu:
Selbstüberschätzung und der Glaube an die eigene Unverwundbarkeit
Europa hat eine sehr hohe Meinung von sich selbst. Man muss nur die europäische Presse lesen, um dies feststellen zu können.
Dies gilt übrigens selbst im ethischen Diskurs:
- obgleich man tausende Menschen jährlich ertrinken lässt, die man retten könnte, obgleich man mit mörderischen Milizen bei der Flüchtlingsfernhaltung zusammenarbeitet und Frontex im Mittelmeer wie eine hoch-kriminelle Vereinigung agiert, sieht man sich dennoch auf der Seite des Guten, ja als dessen Repräsentantin, während man gleichzeitig den Zeigefinger auf andere richtet.
Mit der Wirklichkeit hat diese Selbsteinschätzung wenig zu tun:
- das Selbstbild Europas leidet unter chronischer Selbstüberschätzung und dies führt wiederum zu dem Gefühl der eigenen Unverwundbarkeit.
Es ist vermutlich die jahrzehntelange Erfahrung, dass Krisen anderswo stattfinden, Kriege auf anderen Staatgebieten ausgetragen werden und Europa sich so gut abschotten kann, dass es sich in seinem Glück nicht durch das Leid der anderen affiziert zu fühlen braucht.
Dies Gefühl der eigenen Unverwundbarkeit förderte von Anfang an den erkennbaren Unglauben, dass eine Pandemie sich in Europa in diesem Maße ausbreiten könnte.
Dieser Unglauben ließ es als nicht notwendig erscheinen, alles zu tun, um sich vor der Pandemie zu schützen, einschließlich des Verzichts auf geliebte Gewohnheiten.
Im extremen Ausmaß wird dieser Unglauben in der sogenannten Querdenkerbewegung erkennbar:
- der Unverwundbarkeits-Glaube ließ diese Bewegung und mit ihr zahlreiche Menschen so weit gehen, die Pandemie gleich ganz leugnen.
Was nicht sein darf, kann nicht sein. Wer sich als unverwundbar erlebt, wird so reagieren, wenn er mit seiner Verwundbarkeit konfrontiert wird.
Den Kopf in den Sand stecken und die Verwundbarkeit leugnen, mag eine naheliegende innerpsychische Reaktion sein, hilfreich ist sie nicht.
Angesichts der starken Verbreitung von sogenannten Querdenkern gerade in Europa und den USA, scheint mir diese Bewegung durchaus symptomatisch zu sein für eine sich insgesamt selbst überschätzende Gesellschaft, die in Anbetracht jahrzehntelang geübter Überlegenheitspraktiken nicht wahrsein lassen will oder kann, was sich vor ihren Augen abspielt.
So wird lieber über schnelle Lockerungen diskutiert, wo es darum gehen müsste, in Anbetracht der Mutanten die Pandemie durch weitere Maßnahmen in den Griff zu bekommen und weltweit für die schnellstmögliche und gerechte Verteilung der Impfstoffe zu sorgen, einschließlich der sofortigen Freigabe aller Patente bis zum Ende der Pandemie.
Es ist zu befürchten, dass demnächst zwar mit großem Ritual den Toten dieser Pandemie gedacht werden wird, die eigentlich erforderliche Analyse des eigenen Versagens und der notwendigen Umkehr zu einer nachhaltigen Gesellschaftsform aber ausbleibt.
Was wir als Einzelne lernen können
Mein Artikel hat sich im wesentlichen auf die rein gesellschaftliche Ebene bezogen. Gegenüber dieser können wir als Einzelne fraglos nur begrenzte, aber dennoch signifikante Beiträge leisten.
Wir können auch als Einzelne aus der Pandemie lernen, um uns zu hinterfragen, zu neuen Prioritäten zu gelangen und eine Veränderung unserer eigenen Einstellungs- und Handlungsmuster anzugehen.
Was kollektiv schädlich ist, ist ebenfalls individuell schädlich und wird uns die Bewältigung erschweren, wenn uns selbst Krisen und Herausforderungen begegnen:
- Konsumorientierung und Anspruchshaltung
- Katastrophisierung von Anforderungen
- Empathiemangel und Egozentrismus
- Ausblendung der eigenen Verwundbarkeit
- Übermäßiger Fokus auf sofortige Ergebnisse
So können wir als Einzelne aus der Pandemie die Motivation entwickeln, künftig minimalistischer zu leben und unsere Konsumbedürfnisse zu reduzieren, unsere Bereitschaft zu Verzicht, Geduld und Entschleunigung zu entwickeln, Mitgefühl für alle leidensfähigen Wesen zu entwickeln und entsprechend zu handeln, unsere eigene Verwundbarkeit zu erkennen und anzunehmen, sowie unsere Lebensgestaltung nicht nur auf sofortige Resultate und Konsummomente, sondern auf einen langfristigen und nachhaltigen Lebensbezug auszurichten.
Es gibt eine Reihe von Menschen und gesellschaftlichen Zusammenschlüssen, die genau dies tun, genannt sei beispielsweise die Bewegung Friday for Future.
An solchen Menschen und Initiativen können und sollten wir uns orientieren – und nicht am diesbezüglich nach wie vor insensitiven Mainstream-Europa und sicherlich keineswegs an den Querdenkern, die tatsächlich keine Querdenker sind, sondern mit ihrer Ausblendung der Wirklichkeit, ihrer Empathielosigkeit gegenüber den Betroffenen, ihrer Katastrophisierung von notwendigen und machbaren Schutzmaßnahmen, ihren Unverwundbarkeits-Überzeugungen, ihrer Selbstüberschätzung und ihrem egozentrischen Konsumbezug (alles wieder öffnen!) eine noch einmal übersteigerte Form des egozentrischen europäischen Mainstreams repräsentieren, quasi die Äpfel, die nicht weit vom Stamm fallen.
Europa – dies wird in diesen Pandemie-Zeiten erneut deutlich – braucht weder Selbstlob noch ein “weiter so”, sondern eine Umkehr.
Aktueller Hinweis vom 20.02.2021: Soeben gibt es in Kambodscha zum ersten mal seit November erneut einen Ausbruch im Land. 32 Infizierte wurden bereits gefunden. Die Ursache ist identifiziert und liegt in einem Quarantänebruch mithilfe von Bestechung. Es wird sich zeigen, ob es durch die Abriegelung der entsprechenden Stadtviertel bzw. Gebäude und die Nachverfolgung aller Fälle gelingt, diesen Ausbruch erneut zum Stillstand zu bringen. Deutlich wird wiederum, welche gravierenden Folgen ein einziger Quarantänebruch haben kann und wie essentiell umso mehr die ausnahmslose und kontrollierte Quarantäne für die Fernhaltung der Infektion ist.
. . . eine wichtige Frage scheint mir zu sein, warum findet man solche Meldungen über alternative Ansätze nicht in der Mainstreampresse:
Zitat Deutsche Ärztezeitung:
Ivermectin: Glühende Verfechter und rationale Skeptiker
Lange war es zumindest in Europa verhältnismäßig ruhig geworden um Ivermectin als potentenzielles COVID-19-Therapeutikum. Nun rumort es gewaltig, nachdem ein US-Gremium im Dezember die Ergebnisse einer umfassenden Metaanalyse vorgelegt hat. Das Ergebnis ist ein flammendes Plädoyer für den breiteren Einsatz des antiparasitären Arzneimittels, dem hochwirksame antivirale und entzündungshemmende Eigenschaften gegen SARS-CoV-2 und COVID-19 zugeschrieben werden.
weiteres Zitat aus der DAZ:
“. . . dass Ivermectin die Viruslast signifikant verringern kann. Außerdem soll es die Übertragung und Entwicklung von COVID-19 bei Infizierten eindämmen und bei Patienten mit einer leichten bis mittelschweren Ausprägung der Krankheit die Genesung beschleunigen und eine Verschlechterung verhindern, wenn es früh nach Symptomeintritt verabreicht wird. Bei schwer Erkrankten soll es die Hospitalisierung vermeiden helfen und die Sterblichkeit bei kritisch kranken Patienten mit COVID-19 und in Regionen mit hohen Infektionsraten auch die Fallsterblichkeit vermindern. Das Sicherheitsprofil gilt überdies als vorteilhaft und es liegen umfassende Anwendungserfahrungen über fast 40 Jahre vor. Last, but not least ist Ivermectin preiswert und deswegen auch für ärmere Länder eine realistische Option, die allerorten greifbar ist.”
https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2021/01/11/ivermectin-gluehende-verfechter-und-rationale-skeptiker
Ergänzend noch ein blogartikel zur landesweiten Verwendung in Indien https://tkp.at/2021/01/23/indien-entwickelt-covid-behandlungskit-fuer-weniger-als-3-dollar-pro-person-mit-wirksamen-ivermectin/
Es gibt eine ganze Reihe an bereits vorab veröffentlichten Studien zum Ivermectin und google ist auch voll. Dort finde ich auch eine ganze Reihe von Artikeln in der sogenannten “Mainstream-Presse”, zu der ja auch die hier zitierte Deutsche Apotheker Zeitung gehört. Es gibt positive und negative Befunde, wobei die Studienqualität meines Wissens insgesamt gering und einige Schlüsse spekulativ sind. Ein Überblick kann auch hier nachgelesen werden: https://rebelem.com/covid-19-update-ivermectin/ Quasi ein Wundermittel ist es sicher nicht, denn es wird in Brasilien sehr weiträumig angewandt und die Todeszahlen sind trotzdem hoch. Wenn es wirksam ist, wird es wohl sicher nur ein Bestandteil unter mehreren sein und keineswegs die Pandemie quasi “lösen” können. Richtig ist natürlich, dass es wünschenswert wäre, wenn noch intensiver nach preiswerten Behandlungsmöglichkeiten gesucht würde. Hierfür müssen insbesondere auch staatliche Mittel zur Verfügung gestellt werden, es ist wohl so, dass private Firmen nur echtes Interesse an Medikamenten haben, die sich für sie letztlich finanziell lohnen.
Lieber Herr Gebauer,
Ich weiß, dieser Artikel liegt nun schon ein paar Tage zurück. Aber da muss ich doch gegen halten. Nicht falsch verstehen: Ich kann Ihre Argumentation nachvollziehen, aber ich sehe das dezidiert anders. Im Grunde lautet Ihr Kernargument ja “Dem Rest der Welt geht es schon lange schlecht, da sollten wir uns mal nicht so anstellen”. Das kann man so sehen. Ich sage da: “Du kannst keinem auf eine Stufe helfen, auf der Du nicht auch selber stehst.” Und in diesem Sinne ist es nur absolut nachvollziehbar, dass versucht wird, die (hart erkämpfte und noch bei weitem nicht perfekte) soziale Gerechtigkeit hier in Deutschland gerade während so einer Krise aufrechtzuerhalten. Nicht umsonst meinte mehr als ein Beobachter dieser Tage: Das ist auch eine Art Test, wie stabil unser System eigentlich ist. Antwort: Leider nicht so sehr, wie wir gerne hätten.
Auch finde ich es fraglich, Bildungsgerechtigkeit und die damit verbundene Chancengleichheit im gesellschaftlichen Status (auf Jahrzehnte und für die nächste Generation!) als “Konsum” zu betiteln. Oder die Möglichkeit der Eltern, ihrem Beruf geordnet nachzugehen, zumal noch oft in Kurzarbeit, und damit die Existenzgrundlage der Familie zu sichern.
Ich selbst – man will ja ehrlich sein – habe übrigens meinen eigentlich sicheren und unbefristeten Job durch diese Pandemie verloren und muss jetzt einen harten Knick in meiner noch sehr frischen Karriere ausbügeln; mir Anfang dreißig keine schöne Angelegenheit.
Ist das besser, als krank oder gar tot zu sein? Ja, vermutlich. Und natürlich geht es uns hier besser als in Kambodscha, wo die soziale Ungerechtigkeit vermutlich größer ist als hier. was es übrigens als Beispiel fraglich macht aus meiner Sicht – genauso wie China, dass Sie ja auch noch anführen…
Aber soweit es mich betrifft, war ich deutlich gewillter, anderen zu helfen, als meine eigene Existenz gesichert war. Und so wird das – zu Recht – den meisten hier gehen.
freue mich auf Antwort.
Mein Artikel hat sich weder gegen die übrigens nach wie vor defizitäre soziale Gerechtigkeit in Deutschland gewandt, noch habe ich Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit als Konsum bezeichnet. Mit “Konsum” im kritischen Sinne bezeichne ich alles, was die natürlichen Lebensgrundlagen auf unserem Planeten gefährdet, die Gesundheit von Menschen bedroht (z.B. Party in Corona-Zeiten) oder auf Kosten von Menschen in anderen Teilen der Welt geht (z.B. Billigpreise für unzählige Konsumgüter, die importiert werden).
Präsenzunterricht bei einer sich ausbreitenden Pandemie halte ich für eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit. Sachlage ist, dass große Zahlen an Schüler*innen permanent in Quarantäne sein müssen, während andere weiter lernen. Zudem sind Kinder aus sozial schwachen Familien häufiger von Erkrankungen ihrer Eltern oder auch eigenen Erkrankungen betroffen. Das reduziert die Chancengleichheit und benachteiligt die Benachteiligten noch einmal mehr.
Aus meiner Sicht der einzig richtige Weg ist der konsequente Infektionsschutz. Natürlich sollen Online-Möglichkeiten soweit als möglich genutzt und ausgebaut werden, aber letztlich sollten alle Klassen im Regelfall wiederholt werden, denn Benachteiligte sind auch beim Online-Lernen derzeit benachteiligt.
Es ist selbstverständlich bitter, wenn Arbeitsplätze verloren gehen wegen der notwendigen Schutzmaßnahmen gegen das Virus und die Pandemie. Allerdings ist dies die Schuld des Virus und nicht derjenigen, die die notwendigen Maßnahmen zum Schutz verhängen.
In der Tat ist es besser, lebend als tot zu sein, auch besser gesund als krank. Manchmal wissen wir diese einfachen menschlichen Tatsachen nicht mehr zu schätzen, weil uns alles andere viel wichtiger erscheint.
Zudem kann eine schwere Covid-Erkrankung zu massiven Traumatisierungen führen. Die Angehörigen müssen als Betroffene mitgerechnet werden.
Auch andere anzustecken, die womöglich schwer erkranken oder sterben, kann Menschen ein Leben lang prägen. Wir sollten hier als Gesellschaft konsequent Solidarität praktizieren durch den maximal möglichen Schutz. Das ist jedenfalls meine Position.
Eine Pandemie kann letztlich niemals nur von einem Land aus oder einem Kontinent aus betrachtet werden, das wäre widersinnig – hier hat die WHO völlig recht. Die Definition einer Pandemie ist ihr internationaler Charakter und die aktuelle Pandemie zeigt täglich, dass das, was in einem Land geschieht, schon bald anderswo auftreten kann.
Bestes Beispiel ist die britische Variante, die in Zeiten zu hoher Infektionszahlen entstand und weltweit Verheerungen anrichtet. Hätten die Briten damals anders gehandhabt, womöglich hätte es die britische Variante (und die daraus folgende südafrikanische Variante) nie gegeben. Jedenfalls ist es wissenschaftlich unstrittig, dass die Wahrscheinlichkeit gefährlicher Varianten mit der Anzahl zugelassener Infektionen steigt.
Niemand kann diese Pandemie nach der Maßgabe nur seiner eigenen Gesundheitssysteme behandeln, sondern wir haben in dieser Welt allesamt Verantwortung für einander. So eine Welt würde ich mir jedenfalls wünschen.
Beim Klimawandel ist es genau.
Ebenso wichtig ist es, allesamt voneinander zu lernen. Da ist der internationale Vergleich von großer Bedeutung.
Ich habe nicht nur China erwähnt, sondern vorher noch u.a. Taiwan, Australien und Neuseeland, eben um aufzuzeigen, dass bei der Covid-Bekämpfung die Maßnahmen Wirksamkeit zeigen, unabhängig davon, welches politisches System dahintersteckt.
Ich verstehe, dass Sie gewillter waren, anderen zu helfen, als Ihre Existenz gesichert war. Ich nehme einmal an, dass Ihre Existenz in Deutschland auch weiterhin gesichert ist, so belastend auch sicher Erschwernisse sind und so schwer es ist, ggf. sich beruflich noch einmal neu orientieren zu müssen.
Zum anderen gibt es auch Gegenbeispiele, wo gerade diejenigen Solidarität zeigen, die selbst am meisten betroffen sind. Vielleicht sollten wir uns diese zum Vorbild nehmen?
Nachdem Sie und ich (wenngleich in einem etwas anderen Kontext) ja nun auch per Mail in Austausch stehen, denke ich, kann ich meine Antwort zumindest kürzer halten, als Sie es sonst wäre. Also, der Reihe nach:
1) Bei den Schulen – und da, das wissen Sie mittlerweile, bin ich ja gewissermaßen “Experte” – gebe ich Ihnen mit Einschränkung Recht. Auch ich hätte eine “Generalwiederholung” für sinnvoll und die beste Lösung befunden, doch zu einem so späten Zeitpunkt ist das natürlich nicht mehr durchsetzbar. Das hätte man am Anfang – als korrekten und mutigen Schritt – machen können und sollen. Das war auch im Frühjahr und Sommer 2020 bereits meine Meinung und die meines Umfeldes. Jetzt, wo bereits ein “Corona-Abitur” mehr schlecht als Recht durch ist und etliche Monate Blut, Schweiß und Tränen in dieses Schuljahr geflossen sind, wäre dieser Schritt Wasser auf die Mühlen der AfD. Und das wissen auch die Leute in Berlin und den Landesparlamenten, die den nötigen Schritt damals gescheut haben. Die jetzigen Lösungen mit Wechselunterricht, Präsenz nach (hoffentlich vorhandenem) Test, Online-Unterricht etc., sind theoretisch gut und in der Praxis katastrophal. Auch das weiß ich gleich aus zwei Quellen: Meinem ehemaligen beruflichen Kontext und von Lehrkräften, die ich privat kenne. Letztere fluchen täglich über die Zustände. De facto ist Fairness gar nicht mehr herstellbar, was hochproblematisch ist.
2) Zum Thema Arbeitslosigkeit – von dem ich ja nun, wie gesagt, auch persönlich betroffen bin – kann ich nur in aller Freundlichkeit sagen: Das stellen Sie sich zu einfach vor. Ich weiß nicht, ob Sie selbst oder jemand, der Ihnen nahesteht, mal unmittelbar davon betroffen war. Aber in Deutschland arbeitslos zu werden, ist in der Praxis eigentlich fast immer mit einem dauerhaften sozialen Abstieg verbunden, sofern man nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzt (trotz der unvermeidlich auftretenden depressiven Zustände) und konfrontiert einen mit einem Sozialstaat, dessen primäres Interesse es ist, Statistiken zu schönen – nicht aber, Menschen in für sie würdige Arbeit zu bringen.
Nun mögen Sie – zu Recht übrigens – einwenden: Immerhin hat Deutschland einen Sozialstaat, das ist eher die Ausnahme.
Und genau da, und das ist der Kern von eigentlich Allem, was Sie und ich bisher so an Schriftverkehr getauscht haben, sehe ich auch den Unterschied zwischen uns. Ja, das ist die Ausnahme. Und natürlich sollte die Welt als Ganzes solidarisch handeln; beim Klimawandel mal sowieso (auch davon werde ich dank meines Alters noch viel miterleben). Im Grunde wünsche ich mir die selbe Welt wie Sie, da bin ich mir ziemlich sicher. Vielleicht mit einer Zusatzbedingung: Ich will nicht, dass das bereits hart erkämpfte aufgegeben werden muss. Nirgendwo. Und in diesem Sinne habe ich auch nicht das Gefühl, hier gut gesichert zu sein, denn ich verliere gerade eine Planungssicherheit für mein Leben, die mühsam aufzubauen mich die letzten zwei Jahrzehnte gekostet hat (zur Erinnerung: Ich bin 34). Und das nicht tun zu müssen, wünsche ich übrigens jedem. Gerne auch in Kambodscha.
Ich weiß nicht, ob das zuviel verlangt ist. Ich finde nicht.