Europa sollte die Perspektive wechseln
Soeben ist unserer brasilianischer Mitarbeiter Beto, der für unsere Gleichklang Tochterfirma in Kambodscha arbeitet, von Brasilien nach Kambodscha zurückgekehrt. Derzeit befindet er sich in einer Quarantäneeinrichtung.
- Beto hat nicht nur im räumlichen Sinne eine weite Reise hinter sich. Bezogen auf die Covid-Situation reiste er von einem der stärksten betroffenen Länder der Erde in das am drittwenigsten betroffene Land der Welt.
Kurz einige Zahlen zur Verdeutlichung dieser Aussage – alle Zahlen habe ich am heutigen Morgen (13.09.2020) dem Worldometer entnommen:
- in Kambodscha gibt es gerechnet auf eine Million Einwohner 16 Personen, die sich mit dem neuen Coronavirus infiziert haben – zum Vergleich: in Deutschland sind es 3107, in Österreich 3626, in der Schweiz 5389 und in Brasilien 20192.
- in Kambodscha kommt über alle Fälle gerechnet auf 441 Tests ein Infizierter, in Deutschland liegt diese Zahl bei 52, in Österreich bei 40, in der Schweiz bei 25 und in Brasilien liegt die Rate von Testanzahl zu positivem Befund gar nur bei 3.4.
- aktuell gibt es in Kambodscha keinen einzigen bekannten Infizierten (*siehe Anmerkung unten), der letzte Infizierte wurde vor wenigen Tagen mehrfach negativ getestet. Seit mehr als 100 Tagen gab es keine Ansteckung mehr im Land. In Kambodscha ist auch kein Toter zu beklagen.
- in insgesamt 24 Fällen seit Beginn der Epidemie erfolgte eine Infizierung im Land, alle anderen Fälle waren importiert.
Bezüglich der Anzahl der Infizierten pro einer Million Einwohner stehen weltweit nur noch die Nachbarländer Vietnam (11 Infizierte pro einer Millionen Einwohner) und Laos (3 Infizierte pro einer Millionen Einwohner) besser da als Kambodscha, wobei in Vietnam allerdings bereits Menschen gestorben sind. Auf eine Million Einwohner gerechnet liegt die Todesrate in Vietnam bei 0.4, während diese Rate in Kambodscha und in Laos beträgt.
Zum Vergleich:
- in Deutschland liegt die Zahl der Toten pro eine Million Einwohner bei 112, in Österreich bei 84, in der Schweiz bei 233. In vielen Ländern Europas sieht es weitaus schlimmer aus. So starben in Frankreich pro eine Millionen Einwohner bisher 473, in Schweden 578, in Italien 589, in Großbritannien 612, in Spanien 636 und in Belgien 855 Menschen.
Einigkeit dürfte entsprechend darüber herstellbar sein, dass es in Kambodscha besser aussieht als in Europa und überhaupt als in den meisten Ländern der Welt.
Was kann also Europa von Kambodscha lernen?
Von Kambodscha lernen? Ich habe diese Frage noch nirgendwo in den europäischen Medien gelesen.
Woran mag dies liegen? Ich glaube, es liegt an einer eurozentrischen Brille und sehr viel Arroganz.
Europa ist es gewohnt, sich selbst zu loben und andere zu belehren, von anderen zu lernen, liegt ihm fern. Das ist bedauerlich.
Schon gibt es wieder mehr als 10000 Infizierte pro Tag in Frankreich, in Spanien sieht es nicht viel besser aus, in Großbritannien nehmen die Zahlen zu. Sie scheinen überhaupt überall in Europa zuzunehmen oder allerhöchstens zu stagnieren.
Länder, die vorher niedrigere Zahlen hatten, wie Tschechien, Slowenien oder die Slowakei, sind gerade dabei, ihren Vorteil wieder zu verspielen oder haben dies bereits getan.
Der Winter steht vor der Tür, bald beginnt die Grippesaison.
Ich finde, es ist höchste Zeit, vielleicht einmal um die Ecke zu schauen, um Antworten zu finden auf die Frage: “Was tun die anderen, bei denen die Pandemie bei weitem günstiger verläuft?”
Kambodschas Management der Covid-Pandemie
Der erste Fall in Kambodscha wurde im Januar identifiziert. Es handelte sich um einen Reisenden aus China. Kurze Zeit später traten mehrere Cluster von Reisenden aus Frankreich auf. Es folgten Reisende aus weiteren Ländern und bald waren bereits die ersten Infektionen im Land selbst zu beobachten.
Wieso aber eskalierte die Situation nachfolgend nicht ähnlich wie in Europa oder den USA?
Ich glaube, der Erfolg Kambodschas bei der Bekämpfung dieser Pandemie ergibt sich vor allem aus fünf Faktoren:
- Früher Beginn der Maßnahmen, ohne die Ausbreitung der Infektion abzuwarten: Es gab erst insgesamt drei Infizierte als alle Schulen und Bildungseinrichtungen im gesamten Land geschlossen wurden und die Menschen eindringlich auf verschiedensten Kanälen zur sozialen Distanzierung, zum Händewaschen und auch sehr schnell zum Maskentragen aufgefordert wurden. Kurze Zeit später wurden bei noch extrem geringer Fallanzahl – und trotz Abhängigkeit Kambodschas vom Tourismus – die Außengrenzen geschlossen. Demgegenüber ging man in Deutschland erst einmal Fasching feiern, obwohl bereits eine beunruhigende Anzahl von Infizierten in mehreren Landesteilen identifiziert worden war.
- Konsequente Nachverfolgung aller Kontaktketten: Kambodscha hat pro Infiziertem bei weitem höheren Aufwand getrieben als dies in Deutschland oder anderen Ländern in Europa in der Anfangsphase der Epidemie der Fall war. In Kambodscha wurden nicht nur Familienangehörige, Freunde, Nachbarn und Arbeitskollegen von Infizierten identifiziert, sondern es wurde ebenso beispielsweise nach Taxifahrern gesucht, es wurden Restaurants und Clubs aufgesucht, wo sich Infizierte aufgehalten hatten. Kambodscha hat diese sehr aufwändige Nachverfolgung der Kontaktketten nie aufgegeben und hat diese von Anfang an – in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der WHO – als wichtigsten und unverzichtbaren Teil der Epidemiebekämpfung angesehen. Es gab anfangs noch nicht einmal annähernd genug Tests im Land, so dass am Anfang noch ohne Test eine 14-tägliche Quarantäne derjenigen sichergestellt und kontrolliert wurde, die im direkten oder mittelbaren Kontakt mit Infizierten standen, mittlerweile werden vor und nach der Quarantäne Tests durchgeführt.
- Testung und Quarantäne nach Grenzöffnung: Ähnlich wie europäische Länder hat auch Kambodscha seine Außengrenzen nach einiger Zeit wieder geöffnet, ergreift hier aber (unverändert bis heute) einen völlig anderen Ansatz: Ohne Ausnahme wird jeder Einreisende am Flughafen getestet und wird in Quarantäneeinrichtungen gebracht, um auf das Testergebnis zu warten. Ist auch nur eine Person im Flugzeug infiziert, verbleiben alle Reisenden 14-Tage in Quarantäne und werden aus der Quarantäne erst nach erneutem negativen Testergebnis nach Ablauf dieser Zeit entlassen. Gibt es demgegenüber keinen Infizierten im Flugzeug, dürfen Personen, die in Kambodscha leben, sich in eine häusliche Quarantäne begeben, die kontrolliert und mit erneuter Testung nach 14 tagen abgeschlossen wird. Personen, die keinen Wohnsitz in Kambodscha haben, halten sich in entsprechenden Hotels zur Quarantäne auf und werden nach 14 Tagen ebenfalls erneut getestet. Tatsächlich führte die Öffnung der Grenzen sofort zu einer zweiten Welle, die sich aber aufgrund dieser Maßnahmen ausschließlich durch Einreisende speiste und zu keiner Ansteckung im Land führte. Diese zweite Welle entstand nach Grenzenöffnung auch in den europäischen Ländern, verläuft hier aber seither im Wesentlichen unkontrolliert, da der größte Teil der Infizierten bei der Einreise nicht erkannt wird und sich so die Infektion in den jeweiligen Ländern weiter verbreiten kann. Gerade auch weil einzelne Superspreader massive Auswirkungen auf den Infektionsverlauf im ganzen Land haben können, hat sich Kambodscha entschieden, jeden einzelnen einreisenden Infizierten zu identifizieren, zu isolieren und zu behandeln. Es ist kein Wunderwerk, was Kambodscha eine zweite Welle im Land ersparte, sondern die einfache Erkenntnis, dass bei einer Pandemie der Virus sich sofort weiter ausbreitet, wenn Infizierte einreisen. Um Infektionsschutz mit der Möglichkeit zum Reisen zu verbinden, hat Kambodscha anders als Europa ein wirksames Test- und Quarantäne-System für alle Einreisenden etabliert. Gleichzeitig kommt es so zu einer in Pandemie-Zeiten erwünschten automatischen Filterung: Wichtige Reisen finden trotzdem statt, für unwichtige Reisen wird eine Quarantäne aber meistens nicht in Kauf genommen. Dies wird nicht per Anordnung festgelegt, sondern jeder einzelne Reisende entscheidet selbst, ob ihm die Reise die Quarantäne wert ist oder nicht. Als in Europa noch Liebespaare getrennt waren, hatten diese in Kambodscha längst wieder nach absolvierter Quarantäne der Einreisenden zusammengefunden.
- Krankenhausbehandlung aller Infizierten: Jeder Infizierte, ob mit Symptomen oder ohne Symptome, ob mit leichten oder mit schweren Symptomen, wird in Kambodscha von Anfang an stationär im Krankenhaus behandelt bis mehrfache Testungen jeweils zu einem negativen Ergebnis geführt haben. Dies dient sowohl der besseren Kontrolle der Infektionsausbreitung als auch der besseren medizinischen Versorgung der Infizierten und der Verhinderung von Todesfällen. Diese Maßnahme galt in Kambodscha bereits ab dem ersten Infizierten. Gerade weil im Krankheitsverlauf überraschend und plötzlich schwere Symptome auftreten können, hält man in Kambodscha die intensive und tägliche medizinische Überwachung der Gesundheit jedes einzelnen Infizierten im stationären Setting für notwendig. Ohne jeden Todesfall und aktuell ohne einen einzigen Covid-19 Patienten ist Kambodscha mit diesem Ansatz sehr gut gefahren. Lange Zeit war übrigens in Kambodscha die Covid-19 Behandlung auch für alle Touristen und Nicht-Einwohner Kambodschas kostenlos. Um hier eine übermäßige finanzielle Belastung dieses immerhin zu den ärmsten Ländern Südostasiens gehörenden Landes zu vermeiden, wurde mit Öffnung der Grenzen eine verpflichtende Krankenversicherung für Covid-19 eingeführt und angeboten, die jeder Einreisende vor der Einreise erwirbt, so dass sich weder die Regierung noch die Erkrankten Sorgen über die Behandlungskosten machen müssen. Zu einer Überlastung der Krankenhäuser ist es in Kambodscha durch diesen stationären Ansatzes nicht gekommen, weil die Anzahl der Infizierten durch die ergriffenen Maßnahmen sehr gering gehalten werden konnte.
- Risiken mit Augenmaß konsequent mindern: Es gab auch weitere Maßnahmen, wie Schließung von Diskotheken und Clubs, Aussetzung religiöser Veranstaltungen, Aussetzung von Heiraten und anderen Feiern, Absage des kambodschanischen neuen Jahres. All dies, obwohl es zu diesen Zeiten nahezu keine Fälle im Land gab. Einen so weitreichenden Shutdown des Landes wie in den meisten europäischen Ländern gab es in Kambodscha aber nicht. So waren Restaurants immer geöffnet und es gab niemals Anweisungen, sich nicht zu verabreden oder sich nicht mit anderen Personen auf der Straße aufzuhalten. Die Notwendigkeit solcher drastischeren Maßnahmen konnte Kambodscha vermeiden, weil es den Ereignissen nicht hinterlief und erst reagierte, als es zu spät war, sondern vorausschauend, proaktiv, schnell, konsequent, an wissenschaftlicher Evidenz orientiert und die bereits vorliegenden Erfahrungen in China vor Augen handelte.
Zum Lernen nie zu spät
Ist der Zug bereits abgefahren? Tatsächlich ist es zum Lernen nie zu spät – und wenn es nur um die nächste Epidemie gehen würde.
Aber selbst für die aktuelle Bewältigung der Epidemie kann Europa nach meiner Überzeugung von Kambodscha noch immer einiges übernehmen:
- Testung an den Grenzen: Die gesamte zweite Welle in Kambodscha speiste sich, wie oben dargestellt, ausschließlich aus infizierten Einreisenden. Was wäre geschehen, wenn alle diese Menschen unerkannt eingereist wären? Vermutlich stünde Kambodscha heute bereits da, wo Europa nun steht. Ich lese in Deutschland über freiwillige Testungen von Einreisenden aus Risikogebieten. Ich lese aber auch bereits über Diskussionen, ob man darauf nicht lieber verzichten sollte. Das Beispiel Kambodschas zeigt, wie essentiell die Testung eines jeden Einreisenden ist. Der jetzige Ansatz in Europa ist unzureichend. Wie in Kambodscha sollte jeder Einreisende getestet werden, in Quarantäne gehen und danach noch einmal getestet werden. Übrigens würde dies keine Kapazitäten überfordern, weil sich Reisen bei einem solchen System sofort wieder ganz von selbst auf die wichtigen Reisen beschränken würden. Urlaubs- oder Geschäftsreisen ohne Testung und Quarantäne gehören in Zeiten einer bedrohlichen Pandemie sicher nicht zu den Menschenrechten, sondern drohen im Gegenteil die Menschenrechte aller zu gefährden, wenn dadurch der Ausbreitung der Pandemie weiterhin Vorschub geleistet wird. Der Ansatz Kambodschas ist zudem bei weitem gerechter. Aus jedem Land können Menschen einreisen, Sicherheit wird ohne Diskriminierung erreicht.
- Anspruchsvolle Ziele setzen und nachhaltig handeln: Ob eine vollständige Elimination in dieser Situation in Europa noch gelingen kann, sei dahingestellt. Aber wenn sich alle Maßnahmen auf dies Ziel ausrichten, dann wird mindestens die maximal mögliche Eingrenzung der Epidemie erreicht. Nach allem, was wir wissen, können Menschen sehr viel draußen miteinander unternehmen, Versammlungen in Innenräumen sind aber brandgefährlich. Weltweit haben beispielsweise religiöse Veranstaltungen immer wieder zu auch großen Ausbrüchen geführt und sind an der Gesamtdynamik des Infektionsgeschens direkt beteiligt. Kambodscha hat religiöse Versammlungen und andere Gruppenversammlungen erst jetzt wieder zugelassen, wo es seit langem keine Infektionen im Land mehr gegeben hat. Europa könnte hier von Kambodscha lernen, sich ein anspruchsvolleres Ziel zu setzen, anstatt die Ausbreitung hinzunehmen und bei nach wie vor hohen Infiziertenzahlen riskante Innenraumaktivitäten zuzulassen. Kambodscha handelt weitsichtiger und nachhaltiger, während es in Europa vorwiegend um Kurzzeitziele und schnelle Lockerungen geht. Kambodscha setzt darauf, die Ausbreitung zu verhindern bis wirksame Impfungen oder Behandlungen zur Verfügung stehen. Würden dies alle Länder so sehen, hätte es weltweit weitaus weniger Leid gegeben und es wären sicherlich bei weitem weniger Menschen gestorben als die fast eine Million Todesopfer, die wir bereits jetzt weltweit zu beklagen haben. Gleichzeitig könnten wirklich wichtige oder aus humanitären Gründen notwendige Reisen weltweit stattfinden.
Auch dies lässt sich von Kambodscha lernen – dass in Zeiten einer Pandemie weiterhin die Grundsätze der Humanität gelten sollten:
- weltweit wurden Kreuzfahrtschiffe zurückgewiesen oder diese wurden in Häfen festgesetzt, ohne dass Passagiere und Besatzungen die Schiffe verlassen konnten. Die Schiffe entwickelten sich so zu Virenschleudern mit verzweifelten Menschen an Bord.
- es war Kambodscha, was einem dieser Schiffe mit vorwiegend europäischen und US-amerikanischen Passagieren, der Westerdam, Mitte Februar 2020 nach langer Odyssee die Ankerung und das Ausfliegen der Passagiere nach deren Testung ermöglichte.
- zuvor wurde die Westerdam mit ihrem großen Anteil US-amerikanischer Passagiere übrigens ausgerechnet auch von Guam abgewiesen – Guam ist ein Territorium der USA!
WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus twitterte damals:
- #Cambodia has demonstrated real solidarity in support of the #COVID19 response. We hope all countries and leaders will follow their lead. Together, for a safer world.
Ich möchte übrigens keinerlei Vorhersage für die künftige Entwicklung der Infektion in Kambodscha wagen. Die weiterhin rasante Ausbreitung in den USA, in Europa, in Indien und anderen Ländern Südasiens ist eine Bedrohung für alle.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Virus die Sicherheitssysteme in Kambodscha doch noch überwinden wird. Kambodscha versucht aber, mit Engagement und Rationalität diesen Fall zu verhindern, während er anderswo längst eingetreten ist.
Nach meiner Überzeugung zeigen die Covid-Krise und das exemplarische Management dieser Krise durch Kambodscha, dass Europa sich selbst überschätzt und stattdessen lieber von anderen lernen sollte.
Dies würde ich im Übrigen auch den Demonstranten wünschen, die dieser Tage gegen die Corona-Politik protestieren:
- sich von ihrem deutsch-nationalistischen, eurozentristischen oder Trump-fetischistischen Tellerrand entfernen und einmal einen Blick in die weitere Welt werfen. Leider gibt ihnen die Politik hierfür freilich derzeit kein gutes Vorbild.
Kaum einer weiß von den Erfolgen Kambodschas bei der Covid-Bekämpfung – ich würde mich daher freuen, wenn Sie diesen Artikel teilen.
Aktualisierung (13.09.2020):
- Gerade, wo ich diesen Artikel geschrieben habe, lese ich, dass wir einen erneuten Infektionsfall haben, einen Engländer, dessen Testergebnis in der Quarantäne soeben festgestellt wurde. Er ist nun bereits im Krankenhaus.